Welche Grenze?

Welche Grenze?

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Die kapitalistische Konstante, in der drei Viertel der Menschheit kontinuierlich in äußerstem Elend lebt, und der militärische Grenzapparat, der die Imperien vor diesem Elend schützt, stellt sich als etwas natürlich Gegebenes dar. Es gibt etwas scheinbar natürliches in diesem Verhältnis. Wir sehen darin keine Herausforderungen, die wir überwinden müssen, sondern natürlich verursachte und vorgegebene Lebensbedingung. Sich dieser Herausforderung zu stellen, wird mit der Ausbreitung von Slums, Ghettos und Kriegen in der Welt immer fälliger. Doch, wir akzeptieren diese Lebensbedingungen, so wie wir das Wetter akzeptieren: “Im Süden gibt es mehr Sonne, dafür weniger Geld…”

Die unüberschreitbaren Landesgrenzen, die noch vor zwei Jahrzehnten Europa durchquert hatten und zu einem Symbol der Staatstyrannei wurden, lösten sich nicht auf, sondern sie wanderten an die weniger sichtbaren Außengrenzen Europas. Sie wanderten ins Meer. Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob diese Grenzen unsere Welt vor der Fremde auf eine natürliche Art und Weise trennen würden. Doch für die Waren und Stoffen, die aus der Fremde uns erreichen, existieren diese Grenzen nicht. Die Vertreter des freien Warenverkehrs sind meistens die größten Gegner des freien Menschenverkehrs. Das wunderschöne blaue Meer ist auf diese Weise der neue Ort des zeitgenössischen Totalitarismus geworden, an dem wieder mal die Grenzüberschreitungen mit dem Leben bezahlt werden können.

Schiffe mit Waren und Stoffen aus aller Welt stoßen mit ihren Wellen die Boote der Geflüchteten an. Die Einen müssen kommen, die Anderen dürfen nicht. Doch, reden wir hier wirklich von zwei unterschiedlichen Paar Schuhen? In dieser Wechselwirtschaft lässt sich schwer sagen, wer von wem was weggenommen hat, wer von wem was wegnehmen will. Wer leistet hier? Und wer wird bedient? Wer hat wen zu erst besucht? Wir sie? Sie uns? Die Antworten darauf spalten uns zutiefst.

Ich will auf keinem Fall sagen, dass wir keine Schuld an der Misere der restlichen Welt haben, aber selbst, selbst wenn wir uns darin nicht ganz einig und sicher sind: Es geht hier nicht darum, ob man schuldig ist oder nicht. Es gibt einen entscheidenden Unterschied im Verhältnis zwischen Schuld und Verantwortung: Verantwortlich ist man immer. Allein durch das In-der-Welt-Sein, allein durch diese primaäre Passivität, weil wir (ohne unseren Willen) in diese Welt geworfen wurden.

Räumliche Entfernung spielt keine wesentliche Rolle, um Nähe zu definieren. Sie verschwindet nicht hinter Passau oder im Mittelmeer. Ich bin sogar verantwortlich gegenüber einem Ereignis, das sich unendlich weit weg von mir abspielt. Ja, es kümmert mich, ob eine Ziege in Basra ihren Weg nach Hause gefunden hat. Einerseits ist Verantwortung etwas Unendliches, andererseits ist sie, je nach Vermögen, relativ. Innerhalb von diesem System lebt sie.

Aus Verantwortung heraus, da müssten wir uns wenigstens einig sein. Die eigene Welt macht keinen Sinn ohne den verbindenden Bezug auf das, was sich außerhalb der eigenen Grenzen abspielt. Die klassische europäische Kunst träumte vom Denken an der Grenze zum Anderen als Form der Erkenntnis. Die Grenze wird hier zum Ort der Objektivität. Die Grenze als hochgewürdigter Ort, dessen Überschreitung eine edle Tat bedeutete, denn sie setzte Überwindungen des eigenen Ichs voraus. Eine andere Praxis, die wir auch aus der europäischen Geschichte kennen, ist die Grenze als Abschottung. Ein Ort des Totalitarismus, an dem Grenzüberschreitungen mit dem Leben bezahlt werden. Aber die Kaufmänner verstehen, dass ohne den Anderen kein Mehrwert zu erzeugen ist. Deswegen: Schiffe mit Waren und Stoffen aus aller Welt stossen mit ihren Wellen die Boote der Geflüchteten an.

Der Geflüchtete sollte als das wahrgenommen werden, was er ist. Als eine Grenzexistenz. Er braucht keinen Sonderstatus. Vielmehr sollten wir selbst unseren Status aufgeben, um uns dem Wesen der Grenzexistenz zu nähern. So gesehen, werden wir alle zu den In-die-Welt-Geworfen. Wir sind dann alle auf der Flucht und wir alle geben auch Zuflucht. Je nach Lage, je nach Vermögen.

Adnan Softic, Künstler und Autor, geb. in Bosnien, während des Krieges nach Deutschland ausgewandert, zur Zeit Stipendiat an der Villa Massimo in Rom