Wozu?

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„Wir sind vielleicht die einzigen, die noch senden können. Ich weiß nicht, wie lange“, mit diesem dramatischen Auftakt verabschiedete sich am 21. August 1968 ein Sprecher des tschechoslowakischen Rundfunks aus Brünn bei seinen Nachbarn in Österreich in einem Beitrag im „Abendjournal“ des ORF für 30 Jahre von den Hoffnungen auf Demokratie und offene Grenzen. Der Beitrag schließt mit der Bitte, die Welt und die Vereinten Nationen über die Situation in der Tschechoslowakischen Republik zu informieren, „wenn mit den Nachrichten“ aus dem tschechoslowakischen Rundfunk „Schluß sein wird“.

162.000 Menschen flüchten nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Warschauer Pakttruppen über Österreich (die Grenzen zu Ungarn, Polen und der Ukraine waren geschlossen) in den Westen. Der österreichische Botschafter in Prag Rudolf Kirchschläger lässt, gegen die Weisung des österreichischen Außenministers Kurt Waldheim, keine Visa zu erteilen, in den Wochen nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten tausende Reisevisa in der Österreichischen Botschaft in Prag ausstellen.

Ähnlich groß war die Fluchtbewegung 1956 bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes durch die sowjetische Armee:

Innerhalb weniger Wochen fliehen rund 180.000 Menschen über die burgenländische Grenze nach Österreich. Allein am Eisenstädter Bahnhof kommen am 4. November 1956 5.000 Flüchtlinge an. Am Aufstand Beteiligte und Unbeteiligte, Einzelne, Familien, Frauen, Männer und Kinder, die sich ins sichere Nachbarland retten wollen, bevor es keine Möglichkeit mehr zur Flucht gibt.

Am 27. Juni 1989 zerschneiden der österreichische Außenminister Alois Mock und der ungarische Außenminister Gyula Horn in einem symbolischen Akt den Grenzzaun zwischen Österreich und Ungarn, den sogenannten „Eisernen Vorhang“. Am 19. November 1989 fällt die Berliner Mauer. Die Grenzen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sind nach rund 3 Jahrzehnten ideologischer Trennung und militärischer Abriegelung wieder offen.

Am 25. Juni 1991 rufen die jugoslawischen Republiken Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit aus und bewirken damit den jugoslawischen Zerfallskrieg:

Mehrere Monate lang kommen jeden Tag bis zu 500 Kriegsflüchtlinge in Wien an. Insgesamt werden 13.000 Flüchtlinge aus Kroatien, 90.000 aus Bosnien-Herzegowina und 13.000 aus dem Kosovo registriert. Die wirklichen Zahlen liegen durch die zuvor schon existierenden Gastarbeiterbeziehungen zwischen Jugoslawien und Österreich deutlich höher.

Was ist davon geblieben? Das neue Ungarn riegelt sich ab. Die neue Tschechische Republik, die neue Slowakische Republik haben für die Aufnahme von Flüchtlingen nichts übrig, die Balkanländer versperren Fluchtrouten und setzen das Militär gegen Flüchtlinge ein und das „neue“, von seiner Grundkonstruktion her unveränderte Österreich errichtet Grenzzäune mit dahinter liegenden Stacheldrahtverhauen und versetzt Militäreinheiten in Bereitschaft zum Grenzeinsatz wie bisher nur bei „Krisen“ üblich, der früheren Bezeichnung für Kriege, Bürgerkriege, Aufstände und Besetzungen, bis zur heutigen Neuverwendung des Begriffs für alle möglichen Gelegenheiten. Die Innenminister der EU-Länder haben die Regie über die außenpolitische Frage des Umgangs mit Flüchtlingen übernommen, die Außen- und Verteidigungsminister assistieren ihnen. So wie nach dem Ende der großen Revolutionen aus jeder Nichtigkeit eine „Revolution“ wurde, wandert der Krisenbegriff von einer Entwicklung zur anderen, euphemistisch eingesetzt wie zuvor. Der heutige österreichische Außenminister und die heutige österreichische Innenministerin, Parteikollege und Parteikollegin des den Eisernen Vorhang durchtrennenden früheren österreichischen Außenministers, geben – „Heute große Weltbühne“ – den Strammen Max und die Eiserne Minna, sie scheuen auch davor nicht zurück, größte historische Errungenschaften wie das Öffnen der Brennergrenze auf dem Altar der Eitelkeiten ihrer tagespolitischen Opportunitäten zu opfern.

Man darf den Rechten und ihren verhaltensauffällig gewordenen neuen Freunden aus dem demokratischen Lager in Europa nicht erlauben, sich hinter Notwendigkeiten zu verstecken, die angeblich für ihr Handeln ausschlaggebend sind. Sie sind drauf und dran, die demokratischen Errungenschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu verspielen. Auffallen wird es erst dann, wenn sie alle nicht mehr wahr sind.

Was jetzt schon auffällt, ist die Absenz von Zukunftsvorstellungen und Zukunftsperspektiven im Umgang mit großen Fluchtbewegungen. Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, ist damit allein auf weiter Flur. Alle anderen Staatsoberhäupter überschlagen sich derzeit mit Vollzugsmeldungen zur Abdichtung ihrer Landesgrenzen. In Österreich sitzen Ärzte oder andere bestausgebildete Personen unter den Flüchtlingen tatenlos herum, weil ihnen die Flüchtlings- und Asylbürokratie keine Möglichkeit geben, ihre Fähigkeiten einzusetzen.

Als hätte das eine gar nichts mit dem anderen zu tun, wie das umsteigen Müssen in Salzburg mit Passkontrollen durch einen Korridor von einem Railjet in den nächsten wartenden Railjet seit vergangenem Herbst bei Direktzügen aus Budapest und Wien nach München, wird, wie in diesen Tagen von slowakischer Seite bekannt gegeben worden ist, an der Planung von Städteschnellverbindungen zwischen Bratislava, Wien, Budapest und Prag mit Hochgeschwindigkeitszügen gearbeitet, mit denen pro Stunde 800 Passagiere in 10 und weniger Minuten von einer dieser Städte in eine andere dieser Städte befördert werden sollen. Wozu?

Gerhard Ruiss