Der Brenner
Für EU-Bürger hat der Ort seinen Schrecken verloren: Statt Bange und Schikane vor dem Gewaltmonopol des Staates gleiten sie barrierefrei ins andere Land. Wo vorher noch zwei Grenzstationen zu durchlaufen waren, mit je einem Schlagbaum auf der italienischen und auf der österreichischen Seite, steht jetzt ein Museum. Das Grenzareal ist der Outdoor-Bekleidungsindustrie gewichen, Outlet-Stores und den dazugehörigen Parkhäusern.
Für jene, die erst noch ankommen müssen, reinkommen ins europäische Land der „Freiheit, des Rechts und der Sicherheit“ (Art. 1. Dublin-Verordnung), zeigt sich die Grenze nach wie vor als feste, hohe, undurchdringbare Mauer, die der Laune und Willkür von Grenzpolizisten überlassen ist. Dank der Vielen, die über die Brennergrenze weiter nach Europa, nach Deutschland, nach Skandinavien wollen und deren Zahl sich seit Sommer 2015 schlagartig vervielfältigt hat, hat sich auch diese europäische Grenze vom peripheren Rand zu einem zentralen Brennpunkt verschoben. Der Brenner ist als politischer und öffentlicher Ort, der er immer war, zu einem Ort der öffentlichen Wahrnehmung in Europa aufgestiegen. Obwohl es immer ein politischer und öffentlicher Ort war, haben ihn die Geflüchteten als solchen zurück erobert: Er ist jetzt ein Seismograph für ein freies Land oder für ein Land der gesicherten Grenzen, für ein gemeinsames Europa oder für ein Europa der Nationalstaaten.
Ein freies Europa ohne Grenzen wird sich auf menschliche, soziale, solidarische Werte einigen müssen, dazu gehören die Menschenrechte. Ein Europa der Nationalstaaten wird es nicht lange geben; Nationalstaaten benötigen kein Europa.
Maxi Obexer