Millionen Menschen sind derzeit gezwungen, ihre Länder zu verlassen und auszuwandern. Seit Sommer 2015 ist die Zahl der Geflüchteten, die nach Europa aufbrachen, blitzartig in die Höhe geschossen. Angesichts des immer grausameren und auswegloseren Bürgerkriegs in Syrien wurde beschlossen, die Dublin-Verordnung wenigstens für syrische Flüchtlinge auszusetzen. Die Festung Europa wurde daraufhin von beiden Seiten gestürmt, von außen wie von innen. Während Hunderttausende Geflüchtete über die Grenzen zogen, in Bussen, zu Fuß, in Zügen, brachen die Bürger innerhalb Europas zu einer noch nie dagewesenen Solidaritäts-Bewegung auf: Sie empfingen die Ankommenden an den Bahnhöfen, holten sie in ihren Autos von den Grenzen ab, mobilisierten Lebensmittel, Unterkünfte, Sprachunterricht, halfen, wo immer Hilfe nötig war. Aktivisten und Gründer von Menschenrechtsorganisationen sprechen seither von einer historischen Wende und erinnern nicht zufällig an den Fall der Berliner Mauer.
Unmittelbar, so schien es, kam zur selben Zeit der Begriff der Flüchtlingskrise auf und dominierte von da an wie selbstverständlich den allgemeinen Sprachgebrauch in den Medien und in der Politik. Die Krise war da, auch wenn niemand wusste, was denn die Krise war und worin sie bestand. Was führte zur Krise und dazu, dass sich Politik und Medien unmittelbar über die Tatsache einer Flüchtlingskrise einig waren? Was - oder wer ist mit der Flüchtlingskrise gemeint? Wer befand und wer befindet sich in der Krise?
Lange bevor die Zahlen der Geflüchteten jedes gewohnte Maß übertrafen, scheiterten die Bemühungen der EU-Staatsminister um eine gemeinsame Flüchtlings- und Asylpolitik mit jedem Treffen. Sind es die EU-Politiker, sind es die europäischen Lände oder ist es die Europäische Union, die sich in der „Flüchtlingskrise" befinden?
Länder wie Jordanien, Libanon oder die Türkei haben bisher den weit größeren Teil der Geflüchteten aufgenommen. Die Krise als Begriff ist dort nicht bestimmend. Dabei ist unschwer zu erkennen, dass die Einwanderungen von Vielen zu einer veränderten gesellschaftlichen Realität führen.
Auch in südeuropäischen Ländern wie Spanien, Griechenland und Italien, wo Migranten und Geflüchtete schon seit Jahren einwandern, trifft das zu: Die Einwanderungen verändern die Gesellschaften, unmittelbar und längerfristig.
Ist die Ausrufung der Krise die Reaktion der europäischen Staaten auf bevorstehende Veränderungen? Dann ist die entscheidende Frage die, wie wir damit umgehen wollen.
Wollen wir gesellschaftliche Veränderungen annehmen und gestalten oder wollen wir sie verhindern? Was ist die Krise? Worin besteht sie? Wer befindet sich in der Krise?
Was ist in Krise geraten?
Maxi Obexer