Noch vor wenigen Jahren war ich der festen Überzeugung, der Nationalstaat ist ein Auslaufmodell.
Nicht, weil ich gedacht hätte, er wäre morgen schon abgeschafft. Oder dass die richtigen gesellschaftlichen Organisationsformen der Zukunft bereits gefunden sind.
Aber ich hielt ihn eben doch für etwas, das nach und nach verschwinden würde in einer Welt der überstaatlichen Interessengemeinschaften, global agierenden Unternehmen und (aus unterschiedlichsten Gründen) in Bewegung befindlicher Bevölkerung.
Ich war auch der festen Überzeugung, unser Identitätsbegriff hätte sich längst verändert. Dass wir uns im Grunde einig wären, dass Identität nur eine oszillierende Größe sein kann, immer in Veränderung begriffen. Eine Größe, deren unzählige Bestandteile sich immer wieder neu zusammensetzen und ergänzen.
Nationale Zugehörigkeit schien mir in diesem Gefüge immer nur ein Bestandteil unter vielen zu sein. Und wahrscheinlich nicht mal der wichtigste. Oder der eindeutigste.
Man kann sich durchaus mehreren Nationalitäten zugehörig fühlen.
Nation ist für mich ein – nicht nur im Hinblick auf die deutsche Geschichte – historisch mit Ausgrenzung, Aggression und oft auch Hass gegen andere (oder Andersdenkende) verknüpfter Begriff, dessen Verschwinden aus dem allgemeinen Sprachgebrauch mir nicht besonders leidgetan hätte.
Aber meine Einschätzung war leider falsch.
Der Nationen-Begriff ist nicht verschwunden, er hat im Gegenteil einen unglaublichen Auftrieb bekommen.
Gerade auch hier in Europa.
Die Nationen und ihre zugehörigen Grenzen sind wieder da und machen sich lautstark bemerkbar.
Und sie tun das nicht nur in den rassistischen, undemokratischen und vor allem unmenschlichen Äußerungen einiger Politiker und Extremisten, sondern eben auch – vielleicht in abgeschwächter Form, vielleicht in einem etwas anderen Gewand – in unserem persönlichen Umfeld. Auf der Straße, beim Einkaufen, in der Nachbarschaft, ja, auch in der Familie oder unter Freunden und Kollegen.
Es tauchen Äußerungen auf, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären.
Die Angst greift um sich, behaupten die Leute und einige der Medien, aber diese Angst hat einen sehr ausweichenden, fahrigen Charakter. Wenn man sie direkt anspricht, versteckt sie sich meist ganz schnell. Hinter Beschwichtigungen und unreflektierten, wiedergekäuten Slogans. Seltener kommt auch unverstellter Hass zum Vorschein.
Ich bin beruflich regelmäßig im nicht-europäischen Ausland unterwegs, wo ich in Gesprächen mit Kollegen immer wieder feststellen muss, dass ich mich gar nicht so sehr als Deutsche verstehe, sondern als Europäerin.
Und damit meine ich nicht unbedingt: In Abgrenzung zu einem anderen Kontinent.
Ich meine damit auch keine bestimmte Sprache oder Religion.
Gut, der Glauben an Meinungsfreiheit, Demokratie und Gleichberechtigung schwingt sicher mit. Das ja. Diese Rechte sind ein integraler Bestandteil meines Denkens – aber die Art und Weise, wie menschliche Rechte mit sogenannten „westlichen Werten“ gleichgesetzt werden, stößt mir jedes Mal auf.
Denn dabei verhält es sich auch nicht anderes als mit der oben beschriebenen Angst: Hinter der Wertedebatte versteckt sich meist eine andere Debatte, die ihre eigenen Werte nicht wirklich im Blick behält.
Was ich mit meinem Europa-Verständnis vor allem meine, ist ein Europa der Vielseitigkeit. Ein Europa, das nicht starr ist, sondern permanent im Wandel.
Ein Ort, wo Grenzen fallen oder zumindest durchlässig werden wie eine Membran – kein Ort, wo neue Zäune und Begrenzungswälle entstehen.
Europa ist für mich ein Ort der Koexistenz. Ein Ort des multinationalen Miteinanders. Ein Ort der Freizügigkeit.
Und DAS ist ein Teil meiner Identität.
Viel mehr, als das Faktum, dass ich einen deutschen Pass besitze.
Ein sich gegen Flüchtlinge und Zuwanderung abschottendes Europa hingegen, das sich darauf vorbereitet, wieder mit Ausdauer seine nationalen Fahnen zu schwingen (mit allem, was das für gewöhnlich so nach sich zieht), diese sich rüstende „Festung Europa“ ist kein Ort, dem ich einen Platz in meiner Identität einräumen möchte.
Da wird mir meine eigene Herkunft fremd.
Die einzige Grenze, die es in meinen Augen neu zu ziehen gilt, ist die gegen den Verlust unserer Offenheit.
Ulrike Syha
(Autorin, Übersetzerin von Dramatik, Koordinatorin von EURODRAM).