Ich lebe in Istanbul, ich gehe fünf Mal die Woche über den Taksim Platz. Ich nehme den Bus, ich nehme die Metro. Ich gehe nicht über Sultanahmet spazieren, aber nicht wegen der Bombendrohungen, sondern weil es sich in einem Touristenviertel nicht gut spazieren lässt.
Mich erreichen Nachrichten von Freund*innen und Familie, ob ich nicht sofort nach Deutschland zurückkehren möchte, es sei zu gefährlich in meiner Stadt. Gefährlich? Natürlich ist es das.
Die Gefahr ist real, die Angst ist gemacht. Ich habe keine Angst in Istanbul zu leben. Ich lese täglich internationale Zeitungen, ich weiß, in welchem Land ich lebe. Die Straßen sind voll mit Geflüchteten aus Syrien. Radikale Gruppen drohen mit Bombenanschlägen wegen der militärischen Einsätze in Kurdistan. Das Staatsoberhaupt versucht das Verfassungsgericht abzuschaffen. Das alles ist wichtig zu sehen und in einen größeren Kontext zu setzen. Aber Angst kriege ich, weil man darauf beharrt, dass ich Angst haben muss. Ich kann mich immer weniger auf meine Arbeit hier konzentrieren, verschwende Zeit darauf zu überlegen, was passiert, wenn der Taksim Platz hoch geht.
Wenn mir etwas wirklich Angst einjagt, dann ist es der Gestus der Hilf- und Ahnungslosigkeit deutscher Pressestimmen: Wie konnte es sein, dass in Europa und der Türkei Bomben explodieren? Dass so viele Geflüchtete kommen? Dass die AfD so erstarkt? Der Unwille ökonomische und militärische Zusammenhänge zu sehen und stattdessen die Entwicklungen darzustellen, als würde ein Komet auf uns zu fliegen.
Es ist bekannt, dass es rechtspopulistische etablierte Ressentiments in Deutschland gibt (die, die das bis 2011 behaupten konnten nicht zu sehen, haben spätestens seit dem Auffliegen des NSU keine Ausreden mehr). Es ist bekannt, dass wenn man Waffen exportiert, früher oder später die vor der Tür stehen, die damit angegriffen werden. Oder man hofft, dass sie in den Trümmerzonen bleiben. Aber dann soll man das auch so sagen. Man weiß mittlerweile aus Erfahrung, dass wenn man Zugänge zu den Zufluchtsorten der Menschen abriegelt, nicht weniger fliehen, sondern weniger ankommen. Wenn jetzt von einer „Regulierung“ der Kontingent-Grenzen gesprochen wird, riskiert man wissentlich unzählige Menschenleben.
Man muss die Zusammenhänge beim Namen nennen, sonst nehmen die unkontrollierten Angstschübe der westlichen Bevölkerung zu, weil sie sich außerhalb dieser Kontexte unbeteiligt glauben. Sie entwickeln Ängste wie vor einer Naturgewalt.
Natürlich gibt es auch reale Gefahren. Es explodieren wirklich Bomben, Menschen sterben, Frauen werden vergewaltigt. Da muss man handeln. Aber doch nicht aus der Haltung ohnmächtiger Panik, mit welcher der Westen auf die rasanten Entwicklungen reagiert.
Wenn man mit einem autokratischen Herrscher wie Tayyip Erdoğan Geschäfte über den Austausch von Gefüchteten macht (vor nicht all zu langer Zeit hieß so etwas noch „Menschenhandel“) und sich nicht um die Menschenrechtslage in dem Land kümmert, ist es Heuchelei über die Brandherde, die man damit schürt, betroffen zu sein. Was hätte man anders machen können? Mit den demokratischen Kräften in der Türkei sprechen, die gibt es hier zu genüge, die gehen momentan in Scharen ins Gefängnis, weil Erdoğan die Verfassung ändert.
Wir verschwenden zu viel Zeit mit Verzweiflung.
Passivität macht politisch depressiv, verzweifelter Aktionismus ebenfalls.
Wir schauen live auf unseren Handys zu, wie Syrien zerfällt und Leichen an den Strand der Ägäis gespült werden. Aber was ist mit dem live-Alltag vor unseren Haustüren? Es macht Sinn hinauszugehen. Unser Alltag bietet unzählige Möglichkeiten, Widerstand gegen Diskriminierung zu leisten.
Zum Beispiel: Gegen das Verbot von muslimischen Gebetsräumen an Universitäten protestieren. Der Präsident der Technischen Universität Berlin hat die Gebeträume schließen lassen, gleichzeitig aber gesagt, er habe nichts dagegen, wenn man betet, das könne man auch vor seinem Büro tun, wenn man will. Also schlage ich vor, seine Bürotür zum Treffpunkt für alle möglichen Konfessionen auszurufen: Die Juden wippen mit dem Oberkörper hin und her und schlagen ihre Stirn gegen seine Tür, die Moslems strecken seinem Büro den Popo hin, Hare-Krishnas tanzen um alle herum und schlagen Tamburine.
Strategien der Selbstermächtigung machen produktiv. Wir müssen aus einer neugierigen Überzeugung, aus Stärke heraus agieren. Allianzen machen Mut. Humor auch.
Sasha Marianna Salzmann,
Hausautorin am Maxim Gorki Theater, Berlin, bis vor kurzem künstlerische Leiterin des Gorki-StudioR, Berlin, Mitbegründerin des Neuen Instituts für Dramatisches Schreiben, Nids, Berlin.