Wenn ich Grenze denke, denke ich an die Berliner Mauer. Alles geteilt: Menschen, U-Bahn-Linien, Straßen, sogar ein Friedhof im Wedding wurde von Besuchern und Angehörigen, die im Ostteil lebten, abgetrennt.
Die Berliner S- und U-Bahnen machten die Grenze besonders anschaulich fühlbar. Wenn die Bahn durch Geisterbahnhöfe im Ostteil der Stadt fuhr, mit gedrosseltem Tempo langsam über nicht geölte Schienen kroch, und es den Rücken rauf und runter quietschte, dann wurden ich und die anderen Fahrgäste schlagartig melancholisch. In der S-Bahn hatte zum Beispiel meine Großmutter die Angewohnheit, angesichts des Dämmerlichts der Bahnhöfe über Bienen und Schmetterlinge und Vögel zu sinnieren.
Die Grenze war noch stärker unterhalb der Erdoberfläche fühlbar. Im Schummerlicht ging es langsam ging es durch Geisterbahnhöfe, die das Licht der Kacheln reflektierten, während ich Bahnhofsnamen in Sütterlinschrift entzifferte, die auf menschenleeren Bahnsteigen hingen. Kinder pressten ihre Nasen an die Scheibe und versuchten, ohne Angst dem Herrn Volkspolizisten mit dem Maschinengewehr direkt in die Augen zu schauen. Spinnwebhafte Bahnhöfe. Entnutzte Orte.
Es gab eine S-Bahn Richtung Norden. Wenn die an die Oberfläche rumpelte, dann waren wir Insassen noch paar Wimpernschläge über der Erde im Ostteil der Stadt. Auf der Westseite ein Friedhof, Kreuze, Grabsteine, ein bisschen marode. Durch das Abteilfenster auf der anderen Seite gesehen, Mauer, Todesstreifen, dahinter ein Hochstand. Die, die ihre Lieben nicht auf dem Friedhof besuchen konnten, hatten die Möglichkeit, sich auf eben diesen Hochstand zu stellen und zu winken. Einmal sah ich dort eine Frau, die einen kleinen Hund hochhielt und mit dessen Pfote winkte. Ob jemand im Westteil stand und zurückwinkte, weiß ich nicht. Denn die Bahn nahm Fahrt auf. Zurück blieben die unbewohnt aussehenden Häuser im Ostteil mit ihren in Richtung Westen zugemauerten oder mit Brettern vernagelten Fenstern.
Zu Grenze habe ich noch eine Menge unguter Gefühle abgespeichert, Stacheldraht, Todesstreifen, Flutlicht, bellende Hunde, Patrouille mit hohen Stiefeln, Mauer. Auf West-Berliner Seite Warn- und Schautafeln, gewidmet denjenigen, die sich damit nicht abfinden konnten, dass ihr örtliches Sein bestimmt wurde, die ertrunken, erschossen, mit selbstgebastelten Fluggeräten abstürzten.
In der vierten Klasse setzte unsere Lehrerin gegen den Widerstand der Elternschaft einen Klassenausflug in die Hauptstadt der DDR durch. Als die Lehrerin unsere eingesammelten Milchausweise aus ihrer Tasche nahm und die dem Grenzer am Bahnhof Friedrichstraße zur Kontrolle vorlegte, da weinte ich.
Als wir durch die eigentümlichen Gänge des Tränenpalastes, er hieß so, weil alle dort weinten, nicht nur Kinder, gehen mussten, weinte ich immer noch, aber lange nicht mehr alleine. Sich über die Trennlinie hinauswagen, in etwas Unbekanntes zu gehen, hatte etwas Endgültiges.
Und dann riefen Menschen Wahnsinn, An der Bösebrücke taumelten die ersten herüber. Wieder Wahnsinn. Menschen mit riesenhaft aufgerissenen Augen, ihre Ausweise in der Hand. Der Schlagbaum war oben. Sie sahen erschöpft aus, später bekam ich mit, welche Kraft es gekostet hatte, an einem Kontrollposten auszuharren, den Willen und den Mut aufzubringen, eine Grenze passieren zu wollen. Widerstand zeigen. Und dann standen die Menschen da und staunten ihre Pässe an, die einen Stempel trugen.
Im Grunde genommen nur ein paar Schritte. Freiheit zu wollen, sich Freiheit zu erzwingen, kann eine unglaubliche Kraft kosten. Auf Seiten derer, die die Grenze hielten, schien keine Energie mehr da zu sein, die Trennung aufrechtzuerhalten. Was dazu führte, das in der Nacht der erste Schlagbaum fiel, und alle riefen Wahnsinn.
Ich brauchte Zeit zu verstehen, dass Grenzen, der bewusste Ausdruck von Macht, im Grunde ganz einfach sind, nieder zu reißen. Die Sehnsucht oder das Wollen muss kräftig sein. Neunundachtzig war es machbar. Und ich sah, dass Grenzen überflüssig sind. Wir können sie abschaffen.
Bis heute ist die Verpuffung von Grenze ein schönes Gefühl ….
Tania Folaji, Auorin von Theaterstücken, Filmen, Prosa und Essays, nigerianisch/deutsche Herkunft