In meiner Kinder- und Jugendzeit in den achtziger Jahren verbrachte ich acht Sommer bei meinem Onkel auf dem Bauernhof in Reschen. Reschen liegt in Italien und am Reschenpass und etwa zwei Kilometer neben der Grenze zwischen Österreich und Italien.
In den acht Sommern bei meinem Onkel auf dem Bauernhof in Reschen bin ich mit einer Grenze aufgewachsen und habe gelernt, dass eine Grenze ein Alltag ist. In der Wahrnehmung meines Onkels, die im Laufe der acht Sommer auch zu der meinen wurde, war die Grenze etwas, das regelmäßig und mit hoher Frequenz zu übertreten war.
Geschichtlich bedingt, liegen die Wiesen und Güter der auf der italienischen Seite ansässigen Reschener Bauern zum allergrößten Teil in Österreich. Die Bauern mussten, besonders während der Erntezeit im Sommer, mehrmals täglich, oft sechsmal oder achtmal, manchmal auch fünfzehn- oder zwanzigmal mit dem Traktor und einer Fuhre Heu aus Österreich über die Grenze nach Italien fahren. Im Herbst und im Winter gingen die Transporte in die andere Richtung. Da brachten die Bauern den Stallmist aus Italien zum Düngen auf die Wiesen nach Österreich.
Fast immer war im Sommer Stau in beide Richtungen wegen der Urlauber, die aus Mittel- und Nordeuropa, vor allem aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden, nach Italien fuhren und zurück. Wenn nun mein Onkel mit dem Traktor über die Grenze fuhr, stellte er sich natürlich nicht stundenlang in den Stau, weil er täglich mehrere Fuhren Heu über die Grenze bringen musste, oft sechs oder acht, manchmal auch fünfzehn oder zwanzig. Die Beschleunigung des Grenzübertritts erfolgte folgendermaßen: Mein Onkel trat auf seinem mennigefarbenen Fiat 1300 DT Vollgas, der Sechsylinder-Dieselmotor entwickelte eine respektgebietende Geräuschkulisse, schwarzer Rauch stiegt mit Druck aus dem Auspuff, der senkrecht nach oben ragte, mein Onkel legte den linken Blinker an und fuhr auf dem Streifen in der Fahrbahnmitte langsam, aber doch mit einem Tempo, dem niemand etwas entgegensetzen konnte, zwischen der hinfahrenden und der entgegenkommenden Staukolonne auf die Grenze zu. Die allermeisten Autofahrer fuhren sofort an den Straßenrand, nur sehr wenige widersetzten sich kurz, lenkten dann aber rasch ein, weil mein Onkel die Geschwindigkeit seines Traktors nicht verminderte. Als allerletztes Mittel half ein kräftiges Hupen, woraufhin auch die renitentesten Autofahrer, zu denen vor allem schwäbische Urlauberfamilien zählten, an die Seite lenkten und meinem Onkel mit dem Traktor und der Fuhre Platz machten. An der Grenze selbst erfolgten freundliche Grußwechsel: auf dem Hinweg mit den italienischen, dann mit den österreichischen Grenzbehörden, auf dem Rückweg mit den österreichischen, dann mit den italienischen Grenzbehörden. Man kannte sich, denn eine halbe Stunde später fuhren mein Onkel und ich wieder über die Grenze und so fort den ganzen Tag.
Mein Onkel, der wegen seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus von September 1943 bis April 1945 im Lager Krems-Gneixendorf interniert und zu Zwangsarbeit verurteilt war, würde sich wundern, wenn er hörte, dass heute am Reschenpass ein Grenzzaun errichtet werden soll. Aber darüber kann sich mein Onkel nicht mehr wundern, weil er vor zwei Jahren gestorben ist.
Toni Bernhart, Autor und Literaturwissenschaftler, aufgewachsen in Südtirol, er lebt in Berlin